THOMAS RIEDELSHEIMER |
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Dahinter ist Uschguli! schreit der Pilot, gegen die laut hämmernden Rotorblätter seines neuen französischen Hubschraubers ankämpfend. Unter mir taucht das Mittelalter auf: drei winzige Dörfer am Ende eines 2500 Meter hoch gelegenen Gletschertals. Dunkler Stein im blendenden Schnee. Halbverfallene, fast fensterlose Gemäuer und dazwischen abweisende Wehrtürme – windschief, aber hoch und mächtig. Keine Straße weit und breit, keine Satellitenschüsseln. In einer gewaltigen Schneewolke setzen wir schließlich auf, nicht bevor der Kopilot den Untergrund auf verdeckte Spalten getestet hat. Dieser Dreh in Uschguli ist der letzte Teil des großen Filmes über den Kaukasus von Stefan Tolz. Gestern noch sind wir im gemieteten Turbodiesel mit 190 Stundenkilometer auf breiten Autobahnen nach Frankfurt gedonnert und jetzt verladen wir unseren High-tech-Kram auf einen Ochsenschlitten. Die Welt wächst zusammen und ist doch so weit auseinander. Wir sind in Swanetien, einer Gebirgsregion des Kaukasus im heutigen Georgien. Im höchsten Dorf Europas, will man den Kaukasus zu Europa zählen, und in einer ungezähmten Gegend. Kein Fürst konnte hier je Fuß fassen, keine Armee hat diese Berge erobert. Seit alters her kochen die Swanen ihr eigenes Süppchen, sprechen ihre eigene Sprache, schaffen ihre eigenen Gesetze. Ein misstrauisches Bergvolk sind sie, in Familien unterteilt, in Dorfgemeinschaften vereint, in Blutrache zerstritten. Die Geschlechtertürme, teilweise über 1000 Jahre alt, geben massives Zeugnis ihrer Wehrhaftigkeit. Sogar ihre eigene Religion haben sie geschaffen, eine skurrile Mischung aus Naturgeistern und Heiligen, aus Animismus und Christentum, mit Tieropfern und Spukgeschichten. Es ist ein eigentümlicher Zwiespalt der Gefühle. Einerseits habe ich selten so einen klaren Sternenhimmel, so eine Weite und vielleicht Freiheit verspürt, andererseits strahlt der Ort ungeheure Beklemmung, Enge und Trostlosigkeit aus. Vergessen liegt er da, vergessen am Ende der Welt.
Thomas Riedelsheimer, geboren 1963, arbeitet seit 1986 als freier Autor, Regisseur und Kameramann in München. Neben TV-Kulturdokumentationen hat er vor allem Filme mit gesellschaftspolitischen Themen realisiert. Nach mehreren Kleinen Fernsehspielen ("Die Bräute Christi" erhielt 1993 den Adolf-Grimme Preis in Gold) entstand 2000 der Kinodokumentarfilm "Rivers and Tides", der 2001 mit dem Deutschen Kamerapreis und 2002 mit zwei deutschen Filmpreisen (Beste Kamera, Bester Dokumentarfilm) ausgezeichnet wurde. Als Kameramann für "Am Rande der Zeit" – Männerwelten im Kaukasus verbrachte Thomas Riedelsheimer den Winter 2001 in der georgischen Bergregion Swanetien. Seine Fotoserie entstand in Uschguli, dem höchsten Dorf Europas (ü.d.M 2400 m). |