HARUN FAROCKI |
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Da möchte ich nicht geboren sein: Als ich für ein paar Tage in Georgien war, wollte ich auch Gori sehen. Es gibt dort eine vielleicht zwei Kilometer lange Achse, die auf das Stalin-Museum zuläuft. Die Straße hat einen Mittelstreifen mit Fußweg und ist von Wohnblocks aus grauem Sandstein gesäumt. Das Munizipal-Gebäude mit einer Säulenfassade und einer Kuppel aus Stahl und Glas wurde im Krieg von deutschen Kriegsgefangenen erbaut, ist für die Kleinstadt zu groß, ist aber, wie der ganze Straßenzug, für das, was hier vorgestellt werden soll, zu klein. Gori hat weniger als 50.000 Einwohner.
Ich wollte mir gleich einen Demonstrationszug mit roten Fahnen und Kindern und Blumen vorstellen, aber dafür wäre ein Mittelstreifen hinderlich. Der Plan sieht wohl vor, dass Einzelne oder kleine Grüppchen über den Kies zum Stalin-Museum pilgern. Die Straße läuft auf ein kleines Häuschen mit zwei winzigen Zimmern zu, hinter Glas. Das soll Stalins Geburtshaus sein. Das Häuschen sieht aus wie in einer Brecht-Inszenierung. Dahinter der Riegel des Museums, die Ausstellungs-Räume und in den Flügeln wohl die Verwaltung oder die Stalin-Forschung. Daneben der Salonwagen von Stalin, mit einer Küche mit Gasflamme. Das müsste es von Märklin geben.
Im Museum waren keine Besucher. Mein Begleiter und ich, wir waren tatsächlich die einzigen. Eine Frau kam mit und hatte eine Strichliste für jedes Foto, das ich machte. Sie registrierte und am Ende zahlten wir für jede Aufnahme. Sicher gibt es in den Ruinen der Sowjetunion viele solche Arbeitsplätze. An den Wänden hingen hauptsächlich Fotos. Die waren so oft bearbeitet worden, vergrößert und retouchiert, dass sie alle wie schlechte Fälschungen aussahen. Es gab eine Sammlung von Geschenken, etwa ein Aschenbecher, den belgische Kinder hergestellt hatten. Flämische Pioniere. Es kam mir so vor, als sei nie etwas verändert worden, seit das Museum vor über einem halben Jahrhundert eröffnet hatte. Aber vielleicht irre ich mich und im Tauwetter, Ende der 50er Jahre, ist doch allerlei ausgetauscht worden.
An der ganzen Anlage sieht man, wie sehr die Abrechnung mit Stalin fehlt. Man könnte wirkliche Stalin-Forscher in das Gebäude setzen. Vielleicht würden sie meine Annahme bestätigen, dass die Sowjetunion schon in den 40ern untergegangen wäre, hätte nicht der Krieg gegen Deutschland Stalin eine Art von Legitimation verschafft.
Harun Farocki, geboren 1944 in Nový Jicin, Tschechoslowakei. Farocki gilt mit seinen intellektuellen Diskursen über Bilder, Kino und Politik als einer der bedeutendsten Vertreter des zeitgenössischen Autorenfilms. 1966 bis 68 studierte Farocki an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. Sein umfangreiches Werk umfasst neben den früheren Lehrfilmen, Spielfilme, Essayfilme und Dokumentationen, sowie Videoinstallationen zu politischen, filmgeschichtlichen und theoretischen Themen. Farocki reiste 2003 auf Einladung des Goethe Instituts und MAF (media art farm) nach Tbilissi. Die Ausstellung präsentiert seine Fotoserie über Stalins Geburtsort. |